Ein Roman von José Eduardo Agualusa aus Angola genau nach meinem Geschmack: skurril, fantasievoll und einzigartig. Die Geschichte dreht sich um die Portugiesin Ludovica Fernandes Mano, die unter Agoraphobie leidet und schlichtweg ihre Wohnung nicht mehr verlässt.
Sie geht ungern nach draußen, setzt sich nicht mit anderen Menschen auseinander und meidet jede Interaktion. Ihre Schwester Odete möchte Ludo nach dem Tod ihrer Mutter nicht alleine in Portugal lassen und überredet sie, mit ihr nach Angola zu kommen. Odete hat dort einen Ingenieur aus den Diamantenminen geheiratet. In der Hauptstadt Luanda lebt Ludo einige Zeit mit Odete und ihrem Schwager Orlando zusammen. Doch nach der Revolution in Portugal setzt in Angola der Bürgerkrieg ein und die Portugiesen verlassen schlagartig das Land. Von Odete und Orlando ist keine Spur mehr zu sehen und Ludo bleibt alleine mit ein paar Diamanten in dem fremden Land zurück.
Während die Nachbarn alsbald ihre Koffer packen und das Land verlassen, verstaut Ludovica Fernandes Mano nur die hinterlassenen Essensvorräte. Sogar ein Auto wurde ihrem Schwager geschenkt! Orlando hatte Ludo einen weißen Schäferhund Fantasme geschenkt, damit sie nicht alleine ist und einen Weggefährten hat. Nichtahnend, dass es sich um den einzigen Weggefährten in Ludos Leben für die nächsten 30 Jahre handeln würde. Sie mauert sich im Herbst 1975 gemeinsam mit dem Hund in das Hochhaus ein.
Unabhängigkeit und Bürgerkrieg in Angola
Der Bürgerkrieg in Angola dauerte von 1975 – 2002 und schloss sich an den Unabhängigkeitskrieg (1961 – 1974) an. Von Portugals Seite wurde der Unabhängigkeitskrieg als Kolonialkrieg in Angola, Guina-Bissau und Mosambik geführt. Portugal stand damals unter einer autoritären Diktatur, die an den Kolonien festhielt. Der Kolonialkrieg endete am 25. April 1974 mit der Nelkenrevolution in Lissabon, die den Weg zur Unabhängigkeit aller portugiesischen Kolonien einschließlich Angolas frei räumte.
War Angola kommunistisch?
In Angola trugen drei nationalistischen Parteien den Unabhängigkeitskrieg: die MPLA war kommunistisch und wurde von Kuba und der Sowjetunion unterstützt. Die FNLA erhielt Hilfe von Zaire (Kongo) und die Waffen der UNITA wurden wiederum von den USA und Südafrika mitfinanziert. Während die FNLA alsbald aus dem Krieg ausschied, einigten sich die MPLA und die UNITA auf ein Mehrparteiensystem, das sie 2002 vollends akzeptierten und den Krieg beendete. Die Regierungspartei MPLA hat sich vom Kommunismus distanziert und ist heute zunehmend solzialdemokratisch.
Die Millionenstadt Luanda
Ludo lebt im obersten Stockwerk im „Haus der Beneideten“ – ein von den Portugiesen während der Kolonialzeit errichtetes Hochhaus. Luanda gehört neben Kairo, Lagos und Kinshasa zu den größten Städten Afrikas. Sie zählt heute zur drittgrößten portugiesischsprachigen Stadt hinter São Paulo und Rio de Janeiro – vor Lissabon und Maputo. 2017 war Luanda außerdem für ausländische Arbeiter die teuerste Stadt der Welt in Bezug auf Lebenshaltungskosten, öffentliche Verkehrsmittel, Unterkünfte und Freizeitangebote. Sie lag damit vor den Millionenmetropolen Hongkong und Singapur. Nur die Hauptstadt allein verzeichnet heute 2,5 Millionen Einwohner.
Agualusa schreibt basierend auf wahren Begebenheiten
In der Vorbermerkung des Romans gibt Agualusa an, dass Ludovica Fernandes Mano im Oktober 2010 in einer Klinik in Luanda verstarb. Ihm wurden 10 Tagebücher hinterlassen, die Ludo während der ersten 28 Jahre ihrer Isolation schrieb. In den Tagebucheinträgen, die er in den Roman eingearbeitet hat, erzählt Ludo von ihren Gedanken, ihrer Angst und Langeweile. Die Romangeschichte sei dennoch reine Fiktion, so Agualusa.
Was kann in 30 Jahren Isolation schon passieren?
Auf den ersten Blick mag die Geschichte einer Frau, die sich für 30 Jahre in ihrer Wohnung einschließt, eintönig klingen. Was mag schon passieren? Unten auf der Straße wüten Überfälle und Maschinengewehre, die Ludo von der Dachterrasse beobachten kann. Von den Diamanten weiß niemand, aber Ludo muss auch erkennen, dass sie und der Hund von Diamanten allein nicht satt werden.
Ihre Vorräte gehen mit den Jahren zur Neige und auch das angebaute Gemüse auf der Dachterrasse hält nicht ewig. So ergattert sie sich mal ein Huhn vom Balkon des Nachbars oder fängt eine Taube… Unterhaltung findet sie in den Büchern (die sie später als Brennstoff verwenden muss), dem Radio (solange sie noch Strom hat), dem Garten auf der Dachterrasse und dem kleinen Affen Ché Guevara, der sie ab und zu auf dem Dach besucht.
Die Erzählung ist dynamischer und abwechslungsreicher als man denken mag. Agualusa erzählt die Schicksale einzelner Personen und verdeutlicht mit ihnen die Wirren der Revolutionszeit. Nach und nach stellt er neue Figuren vor, deren Geschichten ineinander übergehen. Auch Ludos trister Alltag ist vernetzt mit anderen Menschen – ob sie es möchte oder nicht.
Doch was ist eigentlich die Allgemeine Theorie des Vergessens? Was genau soll vergessen werden? Die Bedeutung des Titels wird nicht abschließend geklärt. Man erfährt aber, welches traumatische Erlebnis hinter Ludos Isolation steckt.
Diese Ausgabe erschien 2017 beim Verlag C.H.Beck.