Einer der schönsten Romane, die ich seit langem gelesen habe! Mano Dayak aus Niger war Tuareg und erzählt von seinem Aufwachsen in der Wüste, seiner Reise durch die Ténéré und wie er zum Friedensaktivist seines Volkes wurde.
Mano wurde 1950 zwischen dem Jahr der Trockenheit und dem der Heuschreckenplage geboren. Er wächst in Tidène am Rand des Aïr-Gebirges (bis zu 2022 m hoch) mitten in der Wüste Ténéré auf. Die ersten sechs Jahre seines Lebens läuft er wie alle anderen Kinder, die in der Ténéré aufwachsen, nackt herum. Der Körper und die Haut müssen sich an stechende Temperaturen von 35° bis 48° im Juni und -5° bis 25° im Januar gewöhnen.
Mano Dayak wächst in der Wüste auf
Beklagen dürfen sich die Kinder nicht, egal ob wegen der Temperaturen, denen sie ausgeliefert sind, oder sonst etwas. Klagen sei ein Zeichen von Schwäche, das den Menschen entehrt. Besonders in der Wüste, in der alles knapp ist, müsse man sein Leid still ertragen. Ein erhobener Kopf erlaube es, die Tragödien mit Würde zu ertragen, gegen die man eh nichts ausrichten kann.
"Nichts trocknet so schnell wie Tränen. In der Wüste ist Kummer nicht angebracht."
Lesen und Schreiben lernen die Kinder im Sand. Manos Mutter zeichnet ihm Wörter und später Sätze in tamaschek in den Sand und wischt sie immer schneller weg, sodass Mano schneller lesen lernt. Es gäbe keinen Tuareg auf der Welt, der seine Mutter nicht ehren würde. Sie bringt ihm das Wichtigste bei, das er für die Wüste braucht:
"Wasser ist Leben, Wasser ist die Seele, Wasser spendet Leben, und alles hängt vom Wasser ab."
Mano Dayak lässt die Sprichwörter nicht nur im Text fallen, sondern verbindet sie. Als ein Reisender in das Wadi kommt, bieten sie ihm nicht sofort Wasser an, auch wenn er mehr als durstig sein muss. Es soll nicht der Eindruck entstehen, der Fremde würde um Wasser betteln. Wasser ist Leben und um das Leben bettelt man nicht.
Koloniale Zwänge
Der Reisende nimmt Manos Vater zur Seite und erklärt ihm, er habe in anderen Wadis erlebt, wie Kinder von Söldnern entführt wurden, um in die europäische Schule zu gehen. Manos Vater hält nichts von dem europäischen Unterricht, zu dem die koloniale Verwaltung Frankreichs die ganze Bevölkerung und insbesondere die zurückgezogenen Tuareg zwingen möchte. Sie würde Gott aus dem Land vertreiben und könne Mano im Übrigen auch nichts beibringen, was er für ein Leben in der Wüste wissen muss.
"Mano, der Honig verbirgt sich unter deiner Zunge. Verlasse ja nie die Wüste, denn die Wüste reinigt die Seele... Fern von hier bist du taub und blind."
Doch eines Tages würden Söldner kommen und Mano aus dem Wadi entführen, um ihn in einer Schule einzusperren. Also begleitet ihn sein Vater in die Wüste. Es ist nicht nur eine Flucht, denn für Mano wird es auch Zeit, die Augen zu öffnen. In seinem Wadi ist er blind, da er noch nicht gelernt hat, in und mit der Weite der Wüste zurecht zu kommen.
Die Reise der Tuareg
Für mich war das der schönste Teil des Romans. Ich finds beeindruckend, wie Vater und Sohn zu zweit auf ihren Kamelen stundenlang beim Reiten durchgeschüttelt werden. Dass sie auch bei dem größten Durst nichts trinken dürfen, um ihren Wasservorrat bestmöglich einzuteilen. Warum man Blut nicht trinken darf und wie sie sich am Sternbild Orion orientieren. Oder wie sie an einen kleinen Brunnen kommen und dort aus Hunderten von Kamelspuren erfahren, wer kurz vor ihnen alles dort am Brunnen gewesen war.
"Der Mann, der aus dem Krug trinkt, wird nie ein guter Führer werden."
Ich möchte nicht zu viel vorweg nehmen und die Reise durch die Wüste wird so detailliert beschrieben, dass man den Teil auch gar nicht nacherzählen kann. Ich liebe solche Geschichten über Menschen, die komplett anders leben als wir. Stände man wirklich in einem Teil der Sahara, ohne viele Touristen und Reiseführer, wär das glaub ich eins der erschreckendsten Erlebnisse.
Das Aïr-Gebirge liegt in der Ténéré, einer Wüste innerhalb der Sahara. Ihr Name stammt von den Tuareg und bedeutet „Land da draußen“. Die etwa 400.000 km² große Wüste besteht im Norden überwiegend aus flachen Kiesflächen, im Süden aus Sanddünenzügen, die teils über 100 km lang sind. Im Norden der Ténéré liegt das Naturschutzgebiet Aïr und Ténéré, das seit 1988 unter Naturschutz, seit 1991 auf der UNESCO-Welterbeliste und seit 1992 auf der Roten Liste des gefährdeten Welterbes steht.
Geschichte und Bücher
Unterwegs lernt Mano in Oasen, in denen er mit seinem Vater vorbeikommt, von Händlern die „Geschichte der Tuareg“. Die keine sei, denn sie haben sie schließlich in den Sand geschrieben und der Wind hat sie immer wieder weggeweht. Die Europäer hätten ganze Bücher und Abhandlungen über die Geschichte der Tuareg geschrieben und begonnen, die Tuareg aufgrund ihrer Indigo-gefärbten Kleidung die „blauen Menschen“ zu nennen.
Bezüglich ihrer Geschichte müsse Mano sich nur merken, dass sie die „Kinder des Sandes und der Weite“ seien, die die „Schule der Natur“ besuchen. Vor den Büchern solle er sich hüten und wenn er ein freier Mann bleiben wolle, dürfe er sie nie aufschlagen. Und was solle das Zählen? Nur ein Verrückter würde auf die Idee kommen, Sandkörner zu zählen! Mit Geschichten und Erzählungen ist es anders, eine schöne Geschichte sei alle Oasen der Wüste wert. Doch was die Wüste betrifft, die könne man nicht lehren, nur leben…
Arbre du Ténéré
Wie fast in jedem afrikanischen Roman kommt selbst in dieser Wüstengeschichte ein Baum vor. Tafagak, der Baum von Ténéré war eine Akazie, die als isoliertester Baum der Welt galt. In einem Umkreis von 150 km (manche sagen bis zu 400 km) gab es keinen anderen Baum. Er diente als Orientierungspunkt für die Tuareg und nur ein paar Meter entfernt lag ein 40 m tiefer Brunnen. Ironischerweise wurde er 1973 von einem Truckdriver umgefahren und verendete.
„Ironischerweise“, weil Mano Dayak erklärt, wie die Tuareg Jeeps und Autoschrott bei ihren Karawanenzügen durch die Wüste verabscheuten. Die Konzentration, die sie aufbringen mussten, um ganz bei sich zu sein und die Wüste durchqueren zu können, wurde massiv durch herumliegende Autowracks gestört und auf gewisse Weise entehrt. Heute liegt der tote Baum in einem Museum in der Hauptstadt Niamey und an dessen Stelle in der Wüste steht eine Metallskulptur.
Mano Dayaks Geschichte
Im zweiten Teil erzählt Mano Dayak seine persönliche Geschichte und seinen teils umstrittenen Werdegang weiter. Hier erfährt man Hintergründe zur Rebellion und zu den Friedensverhandlungen aus Sicht des Tuareg. Dayak verbringt einige Zeit in Agadez, der bevölkerungsreichsten Stadt im Zentrum des Niger.
Drehkreuz Agadez
Bis vor ein paar Jahren war Agadez noch ein Traumziel für Touristen. Der historischer Stadtkern mit Häusern, Palästen und Moscheen aus Lehmziegel gehört zum UNESCO-Welterbe. Dann wurde es zum Drehkreuz einer der meistgenutzten Fluchtrouten ans Mittelmeer. Von Agadez aus mussten die Migrantinnen und Migranten weiter durch die Sahara bis an die Küste Libyens.
Seit 2016 sperrt Niger in Abkommen mit der EU die Grenzen und viele Flüchtlinge bleiben in Agadez sitzen. Hotels, Restaurants und Händler machen weniger Geschäft und ein strenges Gesetz gegen Schmugglerei verbietet den Handel mit Migranten. Landwirtschaftlich sah es in der Sahara noch nie sehr ertragsreich aus und durch Corona wurden jetzt auch hier die Lebensmittel teurer, da das Land fast alles importiert. Deshalb fordern Vereinigungen in Agadez aktuell, dass die Regierung die Preise regelt.
Uranförderung in Arlit
Etwa 250 km nördlich von Agadez, am Rande des Aïr-Gebirges wird Uran als wichtigstes Exportgut des Landes abgebaut. Seit dem Förderbeginn 1971 gehöt Niger zu den größten Uranproduzenten in Afrika und der Welt. Die Anteile der Minengesellschaften sind zum Großteil französisch und teilweise nigrisch. Fast alles wird nach Frankreich exportiert.
Dayak kommt in Arlit vorbei und sieht das Elend der bettelnden Tuareg-Frauen vor den Zäunen des Bergwerks. Betteln sei eine der schlimmsten Erdniedrigungen für die Tuareg. Doch da ihnen ihr Lebensraum durch die umstrittene Grenzziehung der Sahara-Staaten genommen wurde, haben sie keine andere Möglichkeit, als sesshaft zu werden und in den Städten nach Arbeit zu fragen.
Das Ende vom Nomadentum
Die Tuareg setzen sich aus verschiedenen Gruppen zusammen, die unterschiedliche Sprachen sprechen. Ihr Lebensgebiet in der Sahara erstreckt sich über Teile der Länder Mali, Algerien, Libyen, Niger und Burkina Faso. Die politischen Grenzen wurden zwischen November 1884 und Februar 1885 wie mit einem Lineal gezogen und haben für die Tuareg wenig Bedeutung. Um 1960 wurden die Länder unabhängig von Frankreich, die Grenzen blieben und bereiten bis heute Probleme.
Die Tuareg waren immer gegen die koloniale Grenzziehung. Wieso sollten auch Nomadenvölker, die von Generation zu Generation durch die größte Sandwüste der Erde (9.200.000 km²) ziehen, plötzlich an einer Grenze mitten im Nichts einen Pass und ein Visum vorzeigen? Dazu noch Nomaden, die nichts mit dem westlichen Lebensstil zu tun haben möchten.
"Wenn sie die Karawanen für ihre Identitätskontrollen abfangen, sagen sie: 'Die Ausweise bitte!' Mitten in der Ténéré!"
Rebellionen und Friedensverhandlungen
Ich weiß noch, dass Armin Laschet in einem der Trielle vor der Wahl von den „Tuareg-Terroristen in Mali“ sprach. Die deutsche Bundeswehr unterstützt eine UN-Mission und eine EU-Ausbildungsmission in Niger und dem Nachbarland Mali. Warum sich Rebellen-Gruppen formten, wie sie handelten und wie Mano Dayak dazwischen stand und versuchte, Frieden in die Region zu bringen, erzählt er ausgiebig im zweiten Teil seines Romans.
Der Roman erschien 1996 im französischen Original „Je suis né avec du sable dans les yeux“ in Paris. Ein Jahr zuvor endete im April 1995 die zweite große Tuareg-Rebellion mit einem Friedensvertrag zwischen der Regierung des Nigers und den Tuareg. Mano Dayak war an den Friedensverhandlungen beteiligt. Er starb im Dezember 1995, als das Flugzeug beim Start explodierte, das er zu einem Treffen mit dem Premierminister nehmen wollte.
Diese Ausgabe erschien 2011 beim Unionsverlag in Zürich.