Zum Inhalt springen

Abdulrazak Gurnah: Das verlorene Paradies

Abdulrazak Gurnah Das verlorene Paradies

Plötzlich Nobelpreisträger: Abdulrazak Gurnah war für viele eine Überraschung und auch in Deutschland wartete man auf die Neuauflage. Die Geschichte um den Jungen Yusuf führt kreuz und quer durchs koloniale Tansania, doch das Paradies ist längst verloren. 

Vor seinem Nobelpreis sagte mir Abdulrazak Gurnah (auch) nichts. Ich habe auch nicht damit gerechnet, dass der Literaturnobelpreis 2021 nach Afrika geht. Falls doch, dann eventuell an Ngũgĩ wa Thiong’o aus Kenia, weil er schon seit einem Jahrzehnt als nächster Kandidat gehandelt wird, dachte ich. Jetzt bekam ihn jedoch erst Abdulrazak Gurnah „für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten.“

Gurnah wurde 1948 auf Sansibar geboren, das sich 1964 mit dem Festland Tanganjika zu Tansania zusammenschloss. 1968 flüchtete er mit Anfang zwanzig nach Großbritannien, studierte und machte 1982 seinen Doktor mit der Arbeit „Criteria in the Criticism of West African Fiction“. 1987 veröffentlichte er seinen ersten Roman „Memory of Departure“, in dem es um einen jungen arabischen Mann geht, der aus einem namenlosen afrikanischen Land nach Kenia flüchtet.

Sein Thema ist oft das der Flüchtlinge, über das er, aus einem Melting-Pot wie Sansibar kommend, viel erzählen kann. Swahili, Arabisch, Persisch, Englisch und Deutsch soll Gurnah sprechen, doch er schreibt auf Englisch. Denn Englisch war die Sprache, in der er Bücher gelesen hatte. In seinen Romanen bindet er jedoch immer wieder Wörter aus dem Arabischen und seiner Muttersprache Swahili ein. Und nicht nur das, Gurnah schreibt zwar auf Englisch, aber bringt authentisch neben Wörtern auch Sprechweisen und Erzählungen aus anderen Kulturen ein.

Stone Town ist der älteste Stadtteil der Hauptstadt Sansibar. Der Namen kommt vom hellen Korallenkalkstein | Foto von Jossuha Théophile

Gurnah in vertrauter, westlicher Manier

Durch den flüssigen Schreibstil von Gurnah kommt man sehr leicht in die Geschichte rein. Ich hätte ihr am liebsten noch länger gefolgt. Am Ende erwartete ich eine Art Familien-Saga, die im nächsten und übernächsten Buch weitergehen würde. Und die dann im Laufe der Trilogie einen Höhepunkt erlebt, der in diesem Roman leider noch etwas ausblieb.

Und ich frag mich auch, ob die Geschichte mitunter so leicht zu lesen war, weil es näher am Gewohnten liegt. Die Romane von Ndione aus Senegal, Parkes aus Ghana oder Kitereza aus Tansania lesen sich ganz anders: viel kürzer, wie eine mündliche Erzählung und hier und da auch etwas ungewohnter. Dieser Roman laß sich in vertrauter westlicher Manier mit tansanischer Note. Was vielleicht auch nicht sehr überraschend ist, wenn Gurnah auf Englisch laß und liest.

Dem Schreiben auf Englisch steht oft das Schreiben auf afrikanischen Sprachen entgegen. Das Festland Tansania hat ein starkes Swahili-Selbstbewusstsein. Vielleicht ein tief greifenderes als die seit jeher beliebte Handelsinsel Sansibar. Neben Äthiopien, das als einziges afrikanisches Land nicht kolonialisiert wurde, war Tansania das erste Land, das Swahili als offizielle Amtssprache erklärte. Der damalige Präsident Julius Nyerere soll selbst zwei Theaterstücke von Shakespear ins Swahili übersetzt haben, um zu zeigen, wie ausdrucksstark die Sprache ist.

Dar es Salam
Der Sultan von Sansibar gab Dar es Salam in den 1860ern den arabischen Namen für „Haus des Friedens“. Die Stadt war bis 1974 Hauptstadt. Dann wurde die kleine Stadt Dodoma im Landesinneren zur Hauptstadt, um die Einwohnerzahl in Dar es Salam zu begrenzen. | Foto von samson tarimo

„So wild seien sie“

Die Handlung spielt um 1900 im Gebiet des heutigen Tansania, mitten in der deutschen Kolonialzeit vor dem ersten Weltkrieg. Ganz genau datiert wird es im Roman nicht. Der Hintergrund ist, dass sich die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft seit 1884 ausbreitet. 1888 wird sie von der Bevölkerung an der Küste angegriffen und erhält daraufhin Unterstützung von Otto von Bismarcks Regierung. Die darauf aufbauende Kolonie Deutsch-Ostafrika umfasste das heutige Tansania, Burundi und Ruanda. Nach dem ersten Weltkrieg gingen Burundi und Ruanda an Belgien, und Tansania an Großbritannien.

Von den Deutschen erzählt man sich im Roman nichts Gutes. Sobald sie ein Urteil gefällt haben, hielten sie hartnäckig daran fest. Die Bestrafung sei immer hart. Es hat sogar den Anschein, sie strafen gerne. Der Angeklagte sei schneller gehängt, als man auf den Boden spucken könne. Einige berichten von einem möglichen Krieg zwischen Deutschen und Engländern an der nördlichen Grenze. Sollte das stimmen, würden die Deutschen bestimmt bald beginnen, Menschen zu entführen und sie zu ihren Trägern und Soldaten zu machen. So wie sie es mit den Askaris, den einheimische Soldaten im Dienst der Kolonialmächte, getan haben. Tatsächlich, erzählt man sich, die Europäer können Metalle wie Eisen essen – so wild seien sie.

"Die Deutschen hatten vor nichts Angst. Sie machten, was sie wollten, und niemand konnte sie daran hindern. Einer der Jungen sagte, sein Vater habe gesehen, wie ein Deutscher seine Hand mitten in ein loderndes Feuer gehalten habe, ohne sich zu verbrennen, so als wäre er ein Geist."
Selbst der Kilimandscharo gehörte laut Kolonial-Kartographie von 1885 bis 1918 zum Kolonialbesitz des Deutschen Kaiserreiches | Foto von Anna Claire Schellenberg

Doch nicht nur die Deutschen sind unzivilisiert, jeder im Roman ist wild. Die Europäer, die arabischen und indischen Kaufleute sowie die Einwohner des Landesinneren – jeder nennt den anderen einen Wilden. Gurnah ist ein ständiger Perspektivwechsel geglückt, der auch die Beziehungen und Verhandlungen zwischen Afrikanern, Arabern und Indern vor der Ausbreitung der Europäer zeigt.

Das Paradies ist für Träumer

Wie der deutsche Romantitel verrät, ist das Paradies verloren. Es ist höchstens noch für Träumer wie Yusuf, den Protagonisten. Ihm dämmert erst spät, dass sein Vater ihn zum Ausgleich seiner Schulden an den arabischen Kaufmann Azid verkaufte. An den Kaufmann, den Yusuf vorher nur als Onkel Azid kannte und für den er jetzt arbeitet und in dessen Laden er nun schläft. Sein Kollege Khalil, der ebenfalls an den Kaufmann verkauft wurde, lernt Yusuf an. Als erstes muss er sich angewöhnen, den früheren Onkel fortan Seyyid Azid zu nennen. Yusuf sei ein Swahili, schärft Khalil ihm ein, einer, den der Seyyid „aus der Wildnis“ holte.

"Yusuf spürte die Spule seines Lebens durch seine Hand laufen, und er ließ sie sich immer weiter drehen, ohne sich dagegen zu wehren."

Vor einem Jahrzehnt war der Kaufmann Azid ein kleiner Händler, der Vieh und Holzstämme nach Sansibar brachte und mit Werkzeug, Tabak und Stockfisch zurückreiste. Jetzt handelt er mit Getreide, Kautschuk, Elfenbein und Gold und transportiert sie an die Küste. Als Yusuf dem Kaufmann zuhause ein Dorn im Auge zu werden scheint, nimmt er ihn mit auf eine große Karawanenreise an der Küste entlang bis ins Landesinnere. Vorbei an Küstenorten wie Bagamayo, den Usambara-Bergen und dem Kilimandscharo bis nach Kikongo am Viktoriasee.


Diese Ausgabe erschien 2021 im Penguin Verlag in München


Cookie Consent mit Real Cookie Banner