Der Roman von Ibrahima Balde und Amets Arzallus wurde 2021 veröffentlicht und ist ein ultramodernes Beispiel für mündliche Überlieferungen. Ibrahima kann zwar nicht schreiben, aber in seiner Kultur trägt er die lange Tradition der Erzählkunst mit sich.
In der autobiografischen Erzählung macht sich Ibrahima Balde aus Guinea auf die Suche nach seinem vermissten kleinen Bruder. Dieser hat offensichtlich beschlossen, die gefährliche Reise nach Europa anzutreten. Auf seiner Odyssee wird Ibrahima Zeuge von dem, was der Traum von einem Leben in Europa für viele junge Afrikaner bedeutet: Unsicherheit, Gewalt, Ausbeutung, Einsamkeit und Verzweiflung.
Trotzdem findet er auch Zusammenhalt, Hoffnung und die unerschütterliche Zuversicht einer Schicksalsgemeinschaft. Letztendlich schafft Ibrahima es nach Spanien, wo er seine eigene Stimme findet und seine Geschichte der Verlorenheit in eine der Rettung verwandelt. Er vertraut seine Geschichte dem katalanischen Autor Amets Arzallus an. Dieser schreibt sie für ihn auf und veröffentlicht sie, da Ibrahima weder schreiben noch lesen kann.
Ich wollte bloß einen Weg einschlagen, um zu helfen, weil es hinter uns keine Zukunft gibt.
Ibrahimas kleiner Bruder Alhassane
Ich habe mich umgesehen, und da ist nichts.
Guinea: Hinter uns keine Zukunft
Guinea ist ein Land in Westafrika, das an den Atlantik grenzt. Es ist das Heimatland vieler verschiedener Ethnien, darunter die Fula, die Malinke und die Susu. Die Hauptstadt von Guinea ist Conakry. Das Land ist reich an natürlichen Ressourcen wie Bauxit (für Aluminiumherstellung), Eisenerz (für Stahlherstellung) und Gold, aber trotzdem bleibt es eines der ärmsten Länder der Welt. Die Wirtschaft des Landes wird hauptsächlich von der Landwirtschaft und dem Bergbau getragen.
Fluchtursachen in Westafrika
Die Gründe für die Flucht aus Westafrika und Guinea sind vielfältig. Zu den Wichtigsten zählen: Armut und mangelnde Perspektiven, Konflikte und Kriege, politische Verfolgung sowie diskriminierende Gesetze und Praktiken, Unterdrückung von Minderheiten, Verletzung der Menschenrechte, Korruption und mangelnde Regierungsführung, Mangel an Bildungsmöglichkeiten und Arbeitsplätzen, Mangel an Zugang zu grundlegenden Diensten wie Gesundheitsversorgung und sauberem Wasser.
Die 3 bisherigen Fluchtrouten nach Europa
- von Dakar über den Atlantik
In seinem Roman „Die Piroge“ beschreibt Abasse Ndione die Fluchtroute vom Senegal über den Atlantik auf die kanarischen Inseln. - durch Niger
In „Geboren mit Sand in den Augen“ nennt Mano Dayak die Stadt Agadez im Niger als Drehkreuz für die Flüchtlingsroute durch die Sahara. - durch Mali
Ibrahima Balde reist zwar nicht über Agadez, nimmt aber eine ähnliche Route durch die Wüste und zwar durch den Wüstenstaat Mali.
Route durch die Sahara in Mali
Flüchtlinge aus Westafrika nehmen oft die Fluchtroute durch Mali, um nach Europa zu gelangen. Obwohl die Wüsten im Norden Mali aufgrund von Hitze, mangelnder Infrastruktur, Überfällen und Entführungen besonders gefährlich sind, wagen viele Flüchtlinge trotzdem, die Sahara zu durchqueren. In der Regel sind sie auf verschiedene Schlepper angewiesen, um sie sicher von einem Ort durch die Wüste zum nächsten zu bringen.
Ibrahima Balde begibt sich alleine von einem Ort zum nächsten. Einen Großteil läuft er ohne Schuhe durch die Wüste, was sie noch Jahre später übermäßig anschwellen und schmerzen lässt. In den Orten muss er verschiedene Schlepper für die Mitnahme zum nächsten Ort bezahlen.
Die andere Seite der Tuareg
Anders als im Roman von Mano Dayak zeigt Ibrahima Balde eine ganz andere Seite der Tuareg. Während seiner Reise durch die Sahelzone erlebt er die Tuareg als korrupte und gefährliche Schlepper an der Grenze zu Mali. Auf der einen Seite stehen die Soldaten, auf der anderen die Tuareg. Beide bis zum Anschlag bewaffnet und jederzeit bereit, das Feuer aufeinander zu eröffnen. Doch sie tun es nicht, denn wirtschaftliche Grenzinteressen verbinden sie. Während die malischen Soldaten einen Grenzzoll kassieren, verdienen die Tuareg im nächsten Schritt mit dem Weitertransport der Flüchtlinge.
Für mich waren die Tuareg in Dayaks Roman ein beeindruckendes Nomadenvolk, das so ganz anders lebte als wir es uns überhaupt vorstellen können. Sie kennen die Wüste, sind in ihr aufgewachsen und ordnen sich ihren extremen Bedingungen unter. Ibrahima erlebt eine andere, grausamere Seite. Doch er erzählt auch, dass die Tuareg große Wasserkanister in der Sahara aufstellen, um Reisenden das Leben zu retten.
Die unvorstellbare Weite der Sahara
Die Sahara ist die größte Wüste der Welt und für Flüchtlinge eine extreme Herausforderung, die sie auf ihrem Weg nach Europa bewältigen müssen. Sie ist ein Ort voller Gefahren und Unwägbarkeiten, die für jene, die sich auf den Weg machen, oft übermenschlich scheinen.
Die Reise durch die Wüste war für mich der beeindruckendste Teil der Geschichte. Ich frag mich immer, wie beängstigend es wohl sein muss, mitten in der Sahara zu stehen und niemals genug Wasser und Sonnenschutz dabei zu haben. Noch dazu: Wie anstrengend muss es sein, kilometerweit über den treibenden Sand zu laufen?
Ihr habt hier das Meer, aber dort haben wir die Wüste. Wenn deine Augen noch nie die Wüste gesehen haben, kannst du nicht begreifen, wie das ist. Die Wüste ist eine andere Welt, du betrittst sie und denkst, "Ich werde hier nie wieder rauskommen". Neunzehn Stunden lang ging ich, bis sechs Uhr morgens. Sanddünen, Sandtäler, alles aus Sand. Dort verschwinden deine Fußabdrücke sofort, und niemand kann sagen, "Ja, hier ist jemand langgekommen".
Bedeutung mündlicher Überlieferungen
Mündliche Überlieferungen kommen in Afrika in vielen verschiedenen Formen vor, darunter Geschichten, Gedichte, Lieder und Folklore. Sie dienen nicht nur dazu, Wissen und Geschichten weiterzugeben, sondern auch als Mittel, um die Kultur und Identität der Gemeinschaft zu bewahren.
Für uns in Europa ist das geschriebene Wort besser, denn sonst haben wir kaum eine Chance, die Geschichten aus Afrika zu hören lesen. Ich persönlich habe noch keinen Flüchtling aus Afrika getroffen, der durch die riesige Sahara gereist ist. Ich kann nicht sagen, dass ich „leider“ noch keinen getroffen habe, da ich es natürlich niemandem wünsche.
Doch nur weil die Schriften für uns besser sind, heißt es noch lange nicht, dass sie generell besser oder entwickelter sind. Wer kennt heute schon noch einen guten Geschichtenerzähler? Er wäre der Mittelpunkt auf jeder Party… Und genau das macht den kurzen Roman von 135 Seiten so unterhaltsam: Ibrahima hält sich kurz, liebt Abkürzungen, erzählt nicht ausschweifend, kommt nicht vom Thema ab und spricht den Leser zwischendurch immer mal wieder direkt an. Die Augen werden nicht müde vom Lesen.
Während wir dort zusammen waren, merkte ich, dass sie sehr viel redeten. Schließlich wurden meine Ohren müde, und ich dachte, "Das ist keine gute Begleitung". Das lernt man mit der Zeit, einen Menschen an seinen Worten zu erkennen.
Diese Ausgabe erschien 2021 beim Suhrkamp Verlag in Berlin.