Romane aus Mali sind bereits eine Rarität, und es ist ebenso selten, Literatur aus Mauretanien zu entdecken. Umso erfreulicher ist die Veröffentlichung des jungen mauretanischen Autors Khalil Diallos ‚Die Odyssee der Vergessenen‘ auf Deutsch in diesem Jahr.
Der vielleicht bekannteste Roman aus Mauretanien ist „The desert and the drum“ von Mbarek Ould Beyrouk. Er erschien 2015 und gewann im darauf folgenden Jahr den Prix Ahmadou-Kourouma. Da es den Roman aber noch nicht auf Deutsch gibt, habe ich ihn noch nicht gelesen.
Diallos Roman ist eine kurze Erzählung von nur rund 150 Seiten. Hauptthema ist die Flucht von Forédougou durch die Sahara nach Europa. Die Hauptfigur entscheidet sich mit der Odyssee durch die Wüste gegen den teureren Weg über den Atlantik auf eine der kanarischen Inseln. Die beiden Freunde wählen denselben Weg wie Ibrahima Balde in Kleiner Bruder und nicht den aus Abasse Ndiones Erzählung Die Piroge.
Fluchtromane häufen sich. In diesen Fällen sind sie alle relativ kurz und vom Stil her scheinbar mündlich erzählt. Erzählungen, die sich bewusst an uns als westliche Leser richten?
Vielleicht sind es auch Erzählungen, um die daheim Gebliebenen vor den Gefahren auf den Fluchtrouten zu warnen. Doch die schlimmsten Heimaten fördern nicht den Buchmarkt oder den Gang zum Buchladen, sondern die Flucht, das Land so schnell wie möglich hinter sich zu lassen und den Macheten und Kugeln zu entfliehen.
Ich denke, es sind eher Zeugnisse für den Rest der Welt. Da Europa in der Regel das Ziel der Flucht ist, fühle ich mich durch solche Erzählungen angesprochen. Ich bin keine stille Beobachterin mehr, die einen exklusiven Einblick in afrikanische Geschichten gewinnt, die sie sich geliehen hat, da sie gar nicht für sie geschrieben wurden.
Wie Sembouyanes Odyssee als Vergessener begann
Die Hauptfigur, Sembouyane, stammt aus Forédougou, einem Gebiet im Norden von Guinea. Sein Herz hängt eng an den Erinnerungen an seinen Großvater, der ihm von den Wundern der Welt erzählte. Obwohl sein Großvater verstorben ist, findet Sembouyane Trost und Rat, indem er den Kapokbaum besucht, den sein Großvater geliebt hat, und mit ihm wie Pocahontas mit ihrer Großmutter Weide spricht.
Dieser enge Bezug zu seinen Wurzeln und seinen Liebsten macht den Verlust noch schmerzhafter, als sein Heimatdorf von einem tragischen Massaker heimgesucht wird, bei dem er als einziger Überlebender seiner Familie zurückbleibt. In seiner verzweifelten Suche nach Sicherheit und einem besseren Leben begibt er sich zusammen mit seinem Kindheitsfreund Idy auf die gefährliche Reise in Richtung Europa.
Todesgefahr der Sahara-Durchquerung
Die monatelange Reise durch die sengende Sahara erweist sich als eine unglaublich schwere Prüfung für Sembouyane und seine Freunde. Sie sind auf einen Schlepper angewiesen, der sie und 40 andere Flüchtlinge mit einem überfüllten Lastwagen durch die Wüste befördert. Die Hitze ist unerträglich, und der Motor des Lastwagens kämpft oft mit Überhitzung. Doch noch gefährlicher ist die Tatsache, dass für diejenigen, die vom Lkw fallen, nicht angehalten wird. Die gnadenlose Sahara verschlingt schnell die Spuren von Verlusten, während ihre unerbittlichen Winde die Überreste unter dem scheinbar endlosen Sand begraben.
Khalil Diallo schreibt voller Emotionen und Spannung
Immer, wenn sich kurz der Gedanke von Langeweile beim Lesen einschleicht, brechen absolute Katastrophen los und man kann den Blick auf die Zeilen nicht mehr abwenden. Die Charaktere werden so lebendig beschrieben, dass man mit ihnen lacht, weint und mitfiebert. Jede Wendung in der Handlung ist wie ein elektrisierender Schock, der einen vor Spannung den Atem anhalten lässt. Es ist, als würde man selbst Teil dieser fesselnden Geschichte werden und die Emotionen hautnah miterleben.
Freundschaft und die Kraft der Literatur
Sembouyanes enger Bezug zur europäischen Literatur wurzelt in den Erzählungen seines Großvaters, der ihm von den Schätzen der Pariser Literaturszene berichtete. Auf der Reise begegnen er und Idy Alain, einem Schriftsteller aus Kamerun, der ins Autorenexil gezwungen wurde. Diese zufällige Begegnung führt zu einer tiefen Freundschaft und Allianz, in der nicht nur das Wissen über europäische Literatur geteilt wird, sondern auch der Wunsch, ihre eigenen Geschichten in einer Welt des Wandels und der Unsicherheit zu schreiben.
„Die sechsundzwanzig Wesen, von denen Großvater gesprochen hatte, sind die Buchstaben des Alphabets. Sie und diese Sprache haben mich gerettet. Beim Schreiben habe ich das Gefühl, den Tod zu überwinden, und in jeder Stadt, in jedem Halt kaufe ich Papier und schreibe es voll. Das hilft mir, der harten Realität des Exils zu entfliehen. Den Schmerz in meinen steifen, dehydrierten Muskeln nehme ich dann überhaupt nicht mehr wahr. Es zählt nur noch die glückselige Fiktion, durch die ich ohne Visum reisen und mit dem Erzählen unserer Reise beginnen kann.“
Khalil Diallo: Die Odyssee der Vergessenen
Besonders beeindruckend ist Sembouyanes Entwicklung, der während ihrer gefährlichen Reise das Lesen und Schreiben erlernt. Es ermöglichen es ihm, seine eigene Geschichte aufzuschreiben. Dabei zeigt Khalil Diallo auf eindrucksvolle Weise, wie Bildung und Literatur selbst in den schwierigsten Umständen eine Quelle der Inspiration und Hoffnung sein können.
Die afrikanische Erzählweise in Khalil Diallos Roman
Khalil Diallo hält sich an die afrikanische Erzähltradition. Der Roman ist bemerkenswert kurz und erinnert eher an eine mündliche Erzählung, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Es gibt Wiederholungen, die dem Werk eine tiefe Verbindung zur afrikanischen Literatur verleihen. Es zeigt, wie Khalil Diallo geschickt die Elemente der afrikanischen Erzählkunst in eine moderne Geschichte integriert und somit eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlägt.
Diese Ausgabe erschien 2023 beim Orlando Verlag in Berlin.
Das Original L’odyssée des oubliés erschien 2021 bei èditions Emmanuelle Collas in Paris.